Klavierabend am 9. Juli 2023

Unsere diesjährigen Stipendiaten Hanming Deng (17) und

Anna Ulmschneider (17), beide mehrfach bei großen nationalen und internationalen Klavierwettbewerben für die Jugend ausgezeichnet, spielten das folgende Programm:

 

Ludwig van Beethoven  1770 - 1827       

Klaviersonate Nr. 30 E-Dur op. 109

Vivace ma non troppo, sempre legato - Adagio espressivo
Prestissimo

Andante molto cantabile ed espressivo Gesangvoll mit innigster Empfindung Var. I Molt’ espressivo – Var. II Leggieramente – Var. III Allegro vivace – Var. IV Etwas langsamer als das Thema – Var. V Allegro ma non troppo – Var. VI Tempo primo del tema

 

Frédéric Chopin  1810 - 1849                      

Scherzo Nr. 4 E-Dur op. 54

Presto

 

Claude Debussy  1862 - 1918                       

Images - 1er Série pour Piano à 2 mains
Reflets dans l’eau: Andantino molto
Hommage à Rameau: Lent et grave
Mouvement: Animé

 

Sergei Prokofjew  1891 – 1953              

Toccata d-Moll op. 11

Allegro marcato

 

Hanming Deng, Klavier

 

- Pause -

 

Ludwig van Beethoven  1770 - 1827 

Klaviersonate Nr. 29 B-Dur op. 106 Große Sonate für das Hammerklavier

Allegro
Scherzo: Assai vivace

Adagio sostenuto: Appassionato e con molto sentimento

Largo – Un poco piu vivace – Allegro – Prestissimo – Allegro risoluto

 

Anna Ulmschneider, Klavier

Die Interpreten

Hanming Deng, im Juni 2006 in Peking geboren, musizierte schon als kleines Kind und sang im "Children and Young Woman's Choir of China National Symphony Orchestra". Ihren ersten Klavierunterricht erhielt sie mit fünf Jahren bei Yong Xu in Peking. 2015 zog die Familie nach Deutschland. Sie wurde zunächst an der Musikschule Metzingen von Lydia Gleim unterrichtet, bis sie 2017 zum Pianisten und Pädagogen Romuald Noll an der Stuttgarter Musikschule wechselte. Dort wurde sie bald in die Begabtenförderung und studienvorbereitende Klasse aufgenommen und erhielt von Philipp Vandré Unterricht in Musiktheorie.
 

Bereits in jungen Jahren machte sich Hanming mit Wettbewerben vertraut. 2015 wurde sie 1. Preisträgerin beim Badener Etüdenwettbewerb und dem VIII. internationalen Klavierwettbewerb Johann Baptist Cramer in St. Georgen, ein Jahr später erhielt sie den 1. Preis des VI. Internationalen Reinhold Gliere Klavierwettbewerbes und den Sparkassenpreis des Carl Schroeder Wettbewerbes. Beim 14. Musikalischen Talentwettbewerb errang Hanming einen 1. Preis und einen Sonderpreis für einen Meisterkurs der "Mattheiser Sommer Akademie in Bad Sobernheim" mit Ratko Delorko.

Weitere Preise errang sie beim Tonkünstler Wettbewerb Baden-Württemberg und beim Internationalen Münchner Klavierpodium. Sie erspielte sich 2019 den 1. Preis der VIII. Troisdorf International Piano Competition der Internationalen Brahmsakademie und den 3. Preis des 11. Bach Wettbewerbes in Köthen inklusive des Sonderpreises für die beste Interpretation eines Klavierwerkes von Clara Schumann-Wieck. Sie wurde mit dem 3. Preis des internationalen Klavierwettbewerbes der Jugend in Essen 2020 und dem 2. Preis des International King's Peak Piano Competition ausgezeichnet.
 

Beim Wettbewerb Jugend musiziert erhielt Hanming auf Landes- und Bundesebene Preise in den Wertungen Klavier solo, Klavier und ein Holzblasinstrument und Klavierkammermusik. Beim diesjährigen Bundeswettbewerb erspielte sie sich einen 2. Preis in der Kategorie Klavier solo.
 

2019 gestaltete sie zusammen mit sieben jungen Interpreten das Sonderkonzert des Jungen Klavierpodiums Werner Haas. Im selben Jahr konzertierte sie mit ihrem Trio auf dem Landespreisträgerkonzert von Jugend Musiziert. 2022 wurde sie ausgewählt, zusammen mit dem Jungen Kammerorchester Stuttgart im Mozartsaal der Liederhalle das C-Dur-Konzert KV 467 von Mozart aufzuführen. 2023 ist sie Stipendiatin des Jungen Klavierpodiums Werner Haas.
 

Hanming besucht die bilinguale Klasse am Albert-Einstein-Gymnasium in Reutlingen. Neben Gesang, Gitarrenspiel und Song-Writing beschäftigt sie sich in ihrer Freizeit auch mit Öl- Malerei und Zeichnen.

Anna Ulmschneider wurde im März 2006 in Stuttgart geboren. Im Alter von sechs Jahren erhielt sie ihren ersten Klavierunterricht bei So-Ryong Chuoa. Seit 2016 wird Anna von Romuald Noll an der Stuttgarter Musikschule unterrichtet, wo sie in die Begabtenförderung und studienvorbereitende Klasse aufgenommen wurde. Seit 2016 besucht sie das Musikgymnasium des Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums.
 

Anna erzielte zahlreiche Preise bei nationalen und internationalen Klavierwettbewerben. So ist sie beispielsweise 1. Preisträgerin des Bachwettbewerbs in Köthen, 1. Preisträgerin des internationalen Klavierwettbewerbs „Piano Talents“ in Mailand, 1. Preisträgerin des internationalen Klavierwettbewerbs in Orbetello, 1. Preisträgerin inklusive des Spezialpreises „Premio speziale artistico“ beim internationalen Klavierwettbewerb „Citta di Barletta“, 1. Preisträgerin des International Euregio Piano Award und 1. Preisträgerin des EUUPLAY International Online Piano Competition. Zudem ist sie Preisträgerin des Internationalen Rotary Klavierwettbewerbs Essen, des internationalen Anton Rubinstein Wettbewerbs Düsseldorf, des IMF International Piano Competition Paris, des Internationalen Clara Schumann Wettbewerbs in Leipzig inklusive eines Sonderpreises für die beste Interpretation eines Werkes von Franz Liszt („Orage“).
 

Auch beim Wettbewerb des Tonkünstlerverbands Baden-Württemberg erhielt sie mehrmals 1. Preise. Beim Wettbewerb Jugend musiziert erhielt sie 1. Preise in den Wertungen Klavier solo, Klavier und ein Streichinstrument, Klavier und ein Holzblasinstrument sowie Klaviertrio. Zuletzt, im Mai 2023, erhielt sie einen 1. Bundespreis mit Höchstpunktzahl in der Wertung Klavier solo inklusive des damit verbundenen Sonderpreises der Deutschen Stiftung Musikleben.
 

2020/21 war sie Stipendiatin der Dr. Klaus Lang-Stiftung. Seit 2022 ist sie Stipendiatin der Helmut Nanz-Stiftung und im Jahr 2023 Stipendiatin des Jungen Klavierpodiums Werner Haas. Meisterkurse besuchte sie bei Ilja Scheps, Dietmar Nawroth und bei Phillipe Raskin.
 

Anna ist in Stuttgart bereits mehrfach öffentlich aufgetreten: Im Weißen Saal des Neuen Schlosses, im Mozart- und im Silchersaal der Liederhalle, im Konzertsaal und im Kammermusiksaal der Musikhochschule, im Theater des Augustinums, im Konzertsaal des Hotels Le Méridien, im Mercedes-Benz-Museum und in der Stuttgarter Liederhalle, wo sie 2019 auch im Rahmen eines Sonderkonzerts des Jungen Klavierpodiums mit acht besonders jungen Pianisten zu hören war. Weitere Auftritte hatte sie in der St. Agnes Kirche in Köthen und im Köthener Schloss, im Clara- und Robert-Schumann-Haus in Leipzig, sowie im Konzert- und Ballhaus in Zwickau.

Zu den Werken

Die Widmung der Beethovensonate Nr. 30 in E- Dur genauer zu bedenken lohnt sich in besonderer Weise. Widmungsträgerin ist die 19-jährige Maximiliane Brentano, deren Eltern langjährige Freunde des Komponisten waren. (Zu den Geschwistern ihres Vaters Franz gehörten Bettina von Arnim und Clemens Brentano). In dem Brief Beethovens vom 6. Dezember 1821 an die junge Dame heißt es: „Eine Dedikation !!! - nun es ist keine, wie dergleichen in Menge missbraucht werden - es ist der Geist, der edlere und bessere Menschen zusammenhält auf diesem Erdenrund und den keine Zeit zerstören kann, dieser ist es, der jetzt zu Ihnen spricht ...“
 

Dieser Geist offenbart sich in besonderer Intensität im Thema des Variationssatzes, der Ausgangspunkt eines musikalischen Wundergemäldes, es lässt in ergreifender Weise die Sonate auch ausklingen, indem es am Schluss, ähnlich des Kunstgriffes Bachs in den Goldberg- Variationen, nochmals wie in einer Rückschau zitiert wird.
 

Der 1. und 2. Satz sind auf diesen Höhe- und zentralen Ausgangspunkt der Sonate hingeordnet . Der Charakter des ersten Themas des ersten Satzes erinnert an ein Bachsches Präludium. Es erscheint im Duktus einer gleichsam vergehenden, dahingleitenden Figur, die der Interpret geheimnisvoll einem schon vorhandenen, uns umgebenden musikalischen Kosmos entnimmt und so die Sonate quasi unversehens reale Gestalt gewinnt. Der Labilität des 1. Themas entspricht seine Kürze, es umfasst nur vier Takte und führt nahtlos in die Überleitung zum mit Adagio espressivo bezeichneten 2. Thema.
 

Auch dessen Charakter lässt Assoziationen zu barocken Vorbildern lebendig werden – wie dies in Beethovens Spätwerk häufig der Fall ist. Hier vereint es Merkmale eines Rezitativs mit jenen der Kadenz eines Klavierkonzertes. In der Durchführung wird ausschließlich auf das 1. Thema zurückgegriffen, aber jetzt erscheint es nicht als „vergehend“, sondern als „werdend“, um dann in der Coda ausschließlich im „jetzt“ zu verweilen.
 

Abrupt fährt das Prestissimo des 2. Satzes in das Piano am Ende des ersten. Man kann dieses dahineilende Perpetuum mobile als Sonatenhauptsatz lesen, gleichzeitig übernimmt es aber auch die Funktion eines Scherzos. Der Charakter des Stückes ist von Wildheit, auch Schroffheit, von Gegeneinander und Kampf und immer wieder von unheilvollen piano-Passagen geprägt. Es bricht in einer ebenso offenen wie unversöhnlichen Geste ab und verharrt in einer Atmosphäre der gespannten Erwartung auf das Kommende. In diese Stille hinein spricht nun der oben beschriebene Geist in einer unendlich intimen und berührenden Weise, gefolgt von sechs Variationen.

 

Das ebenso in E-Dur konzipierte Scherzo Nr. 4 von Frédéric Chopin ist zweifellos das vielschichtigste und auf seine Weise tiefschürfendste seiner vier Scherzi. Es begegnet dem Hörer auf den ersten Blick in einer hellen, freundlichen Sprache, voll feiner Pointen und raffinierter Andeutungen, sublimer Spannungen und deren - zum Teil unerwarteten und verzögerten - Auflösungen. Dies ist umso erstaunlicher, als Chopin zum Zeitpunkt der Komposition des Werkes bereits unheilbar an Tuberkulose erkrankt war.

 

Eingebettet in einen höchst anspruchsvollen Klaviersatz, in dem schwierigste Aufgaben völlig mühelos gemeistert sein wollen, spricht in einer gleichsam zweiten, dem oberflächlichen Blick verborgenen Schicht ein expressiver, sehr sublimer Subtext zu uns. Schwer greifbar, ist er dennoch steter Begleiter, einmal mehr, dann wieder verdeckter sich zeigend, tritt er im Mittelteil nach vorne und entfaltet sich in einer melodischen Schöpfung Chopins, die ob ihrer berückenden Schönheit betroffen macht. Wenn die Sehnsucht nach dem unerfüllbaren Glück, dem Eins-Sein mit der Welt jenseits des rationalen Erfassens ein Wesensmerkmal der romantischen Musik ist, dann steht der Mittelteil des E-Dur-Scherzos für „Romantik pur“. Im Ausgang dieses Trios scheint für einige Momente die klirrende Virtuosität und ungezügelte Wildheit des 1. und 3. Scherzos zurückzukehren. Aber letztendlich fängt Chopin diese Anwandlung ab und führt das Werk zu einem kompromisslos positiven, leuchtend kräftigen Abschluss.

 

In der postromantischen Epoche des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verzweigt sich der Strom großer Musik in gegensätzliche ästhetische Ansätze. Während bei Claude Debussy das Klavier so behandelt wird, als gelte es, zu verschleiern, dass befilzte Hämmer die Saiten zum Klingen bringen, wird dieser Schlagzeugcharakter des Klaviers bei Prokofjew nicht mehr verleugnet, oft geradezu ins Zentrum gerückt.

 

Ganz ähnlich den impressionistischen Malern richtet sich Debussys Blick auf die Natur. Aber er imitiert diese nicht einfach, sondern erschafft sie - inspiriert - gleichsam auf dem Klavier neu. Dabei sind die Titel zugleich Programm. Bei Werken wie den „Reflets dans l’eau“ bestimmt der Gegenstand der Betrachtung die musikalische Form, eine der tradierten Formen ist nicht mehr feststellbar. In der „Hommage a Rameau“ greift Debussy auf das barocke Vorbild der Sarabande zurück und haucht diesem langsamen, sinnlichen Tanz in seiner – Debussys – Tonsprache neues Leben ein. „Mouvement“ lässt die wirbelnden Sechzehntel-Triolen nie abreißen. Beginnend auf dem begrenzten Raum einer Quinte und diesen in verschiedenen Klangvarianten zunächst gar nicht, dann geringfügig zu erweitern, entfaltet sich das Geschehen urplötzlich über das gesamte Klavier. Der Mittelteil flicht in das Triolengeschehen einen groß angelegten Melodiebogen ein.

 

Die Toccata op. 11 von Sergej Prokofjew (komponiert 1912, uraufgeführt 1916 vom Komponisten selbst) steht in einer engen Verbindung zur Toccata op. 7 von Robert Schumann. Im Barock war die Toccata eine völlig freie Form, langsame, freie und virtuose Teile beinhaltend. Schumann hat eigentlich die Toccatenform neu definiert als hochvirtuoses Musikstück, das primär durch eine gnadenlos durchgehaltene rhythmische Motorik geprägt ist. Alle nachfolgenden berühmten Toccaten (z.B. Ravel, Debussy) sind von dieser Grundausrichtung nicht mehr abgerückt.

 

Vier Grundelemente hat Prokofjew als Konstanten seiner Musik benannt. Die klassische Linie (Aufgreifen alter Formen, Tänze etc. z.B. Klassische Symphonie), die moderne Linie (neue Harmonien), die rhythmische Linie und die lyrische Linie (welche erst später zu Tage trat, etwa in den Visions fugitives). Prokofjew: „Lange Zeit hat man mir die Fähigkeit zum Lyrischen abgesprochen; da meine Lyrik nicht ermutigt wurde, konnte sie sich nur sehr langsam entfalten.“ In der Toccata op. 11 manifestiert sich die Quintessenz seiner rhythmischen Energie. Das Werk verzichtet praktisch gänzlich auf durchgängige Melodien und arbeitet lediglich mit Melodiefragmenten. Zugleich ist das Werk voller Farben und polyphoner Strukturen. Es beinhaltet anspruchsvollstes Doppelgriff- und Akkordspiel: eine Art „Ristretto“ der schwersten prokofjewschen Klaviertechnik.

 

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Hanming Dengs Programm am heutigen Abend eine enge Beziehung zu Werner Haas aufweist. Berühmt ist dessen LP von Toccaten von der Barockzeit bis ins 20. Jahrhundert, die neben den schon erwähnten Toccaten von Bach, Schumann, Debussy, Ravel und Prokofjew auch unbekanntere Werke umfasst. Seine Aufnahmen des Debussy- und Ravel-Gesamtwerks waren ohnehin schon zu seinen Lebzeiten legendär. Auch von der Sonate Nr. 30 von Beethoven liegt ein live-Mitschnitt eines Klavierabends vom 4. November 1969 in Basel vor.

 

Zur Sonate Nr. 29 B-Dur op. 106 (Große Sonate für das Hammerklavier) schrieb Beethoven seinem Verleger: „Da haben Sie eine Sonate, die den Pianisten zu schaffen machen wird, die man in fünfzig Jahre spielen wird.“ Tatsächlich wurde die Sonate am 18. Mai 1836 von Franz Liszt in Paris uraufgeführt. Hector Berlioz schrieb dazu: „Es war dies das Ideal der Ausführung eines Werkes, das im Ruf der Unausführbarkeit stand. Indem Liszt ein noch unverstandenes Werk wiedergab, bewies er, dass er der Pianist der Zukunft sei.“ Clara Schumann trat zum ersten Mal am 8. Dezember 1855 bei einem Konzert im Leipziger Gewandhaus mit der Sonate auf. In der Tat sprengt die Hammerklaviersonate die Dimension aller bis dahin und aller danach entstandenen Sonaten.

 

Das 1. Thema des 1. Satzes findet sich schon in einer unvollendeten Kantate zu Ehren des Erzherzogs Rudolf, unterlegt mit dem Text: „Vivat, vivat Rudolphus“. Mit einem Paukenschlag und dieser Fanfare beginnt die Sonate. Dem Charakter des 1. Themas ist der erste Teil des 2. Themas entgegengesetzt, geprägt durch fließende, scheinbar richtungslose Achtelfiguren auf einem gefühlten Orgelpunkt „d“, gefolgt von einem zweiten Teil im Quartettsatz. Die dritte Episode des 2. Themas setzt sich wiederum in Achtelfiguren fort, denen allerdings nun ein latentes, geheimnisvolles Drängen innewohnt. Das 2. Thema wird abgeschlossen durch eine Art Kadenz, auf welche resümeeartig eine Art 3. Thema erklingt, welches in eine virtuose Coda einmündet.

 

Dass ein Thema, wie hier beispielhaft angesprochen, mehrere großzügig ausgeformte Unterkapitel beinhaltet, ist in dieser Form eine Besonderheit des Opus 106 und lässt sich bei vielen Themen, aber z. B. auch in der Durchführung des 1. Satzes zeigen. In dieser sticht ein Fugato hervor, welches das 1. Thema verarbeitet. Aber auch das 3. Thema erscheint in polyphonen Verwicklungen. In der Coda treten schon die Vorboten dissonanter Klänge auf den Plan, sie werden sich in der Fuge des 4. Satzes bis an die Grenzen der tonalen Harmonik verdichten. Das folgende Scherzo greift den punktierten Rhythmus des 1. Themas vom 1. Satz in B-Dur auf, eilt – mit diesem jonglierend – dahin, um dann im Trio in dunkle, geheimnisvolle b-Moll-Sphären hinüber zu gleiten.

 

Der 3. Satz verlässt wiederum jeden bisher bekannten Rahmen. Das Adagio sostenuto dauert annähernd 20 Minuten, länger als viele Sonaten in ihrer Gesamtheit. Der Satz beginnt in einer fast schon depressiven fis-Moll-Stimmung, der Protagonist scheint sich tastend, mezza voce, nach einem Ausweg suchend zu bewegen. Eine Überleitung schwingt sich zunächst zu einem leidenschaftlichen Gesang auf (con gran espressione), um auch hier wiederum in einem weiteren, nun polyphonen Kapitel zum 2. Thema zu gelangen. Dieses sendet Signale der Hoffnung. Es folgt ein Durchführungsteil, dann die Wiederholung von 1. und 2. Thema, schließlich eine groß angelegte Coda, die über das bisherige Geschehen meditierend Rückblick hält.

 

Der 4. Satz stellt der kolossalen Fuge eine improvisatorische Einleitung voraus. Die Fuge selbst gleicht einem ungeheuren Vulkanausbruch, dessen Nachbeben bis in die Musik des 20. Jahrhunderts hinein spürbar bleibt. Insgesamt hat das Thema 21 Auftritte, es durchläuft alle denkbaren Mutationen von der Spiegelung bis zum Krebs (zurücklaufendes Thema). Man hat Beethoven oft die titanische, die prometheische, sich auflehnende Geste zugeordnet. Sein Held durchkämpft alle Widrigkeiten, geht keiner Schwierigkeit aus dem Weg, ist am Schluss der positive Überwinder. Die Fuge der Hammerklaviersonate in ihren unendlichen Verwicklungen, teilweise fast unerträglichen dissonanten Exzessen der Verzweiflung, auch des Zornes, des Fliehen-Wollens, in ihren manchmal fast unspielbaren Partien und ihrer extremen Dramatik steht wie kein anderes Klavierwerk Beethovens für diese Eigenschaften.

 

Romuald Noll, 2023

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